Jeder spricht für sich

Die Dresdner Bürgerbühne

Foto: Sebastian Hoppe, Szene aus "Die Verwandlung"

Zehn Jahre lang leitete Miriam Tscholl die Dresdner Bürgerbühne. Im Sommer wird sie das Staatsschauspiel verlassen. Zuvor lädt sie die besten Inszenierungen zum 4. Europäischen Bürgerbühnenfestival nach Dresden ein.

Einen „wahren Theatercoup“ habe er gelandet, jubelte Wilfried Schulz, damals Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, im Interview mit der „Dresdner Morgenpost“. Das war 2009, Schulz hatte gerade die Regisseurin Miriam Tscholl nach Dresden geholt. Sie sollte dort eine Bürgerbühne aufbauen. Theater mit Laien – oder eben: Bürgern – war zwar auch 2009 nicht mehr ganz neu. Die Gruppe Rimini Protokoll arbeitete längst mit Laien, die sich selbst spielen, der Regisseur Volker Lösch ließ Bürgerchöre in seinen Inszenierungen auftreten.

Die Regisseurin Miriam Tscholl hat die Bürgerbühne als eine tragende Säule des Staatsschauspiels aufgebaut. © Sebastian Hoppe

Aber nirgends ging man so weit wie in Dresden, wo die Bürgerbühne eine eigene Sparte am Stadttheater bekam. Das bedeutet: genauso viel Personal und dasselbe Budget wie die Profi-Kollegen. Die Stücke sind Teil des regulären Repertoires.

Das Experiment glückte auf Anhieb. In dem Interview nennt Schulz den Grund dafür: Miriam Tscholls „unglaubliche Energie“. Heute, zehn Jahre später, gilt Tscholls Bürgerbühne als Erfolgsmodell. Im vergangenen September wurde sie mit dem von der Commerzbank-Stiftung vergebenen Zukunfts-Gut-Preis ausgezeichnet, der mit 50.000 Euro dotiert ist.

Wer die heute 44-Jährige bei der Arbeit besuchen will, muss über eine Kombination von Gängen und Treppen ins Innere des Kleinen Hauses, der zweiten Spielstätte des Staatsschauspiels. Am Ende eines Flures gibt es nur noch eine Tür, die Tscholl jetzt aufhält. „Hier stört einen wirklich keiner“, sagt sie. Das Büro ist das einer Frau, die gewohnt ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: großer Schreibtisch in der Mitte, Bücherregal, weiße, fast kahle Wände. Das einzig Bunte ist der knallgelbe Streifen auf der Trainingsjacke über dem Stuhl. An einer Wand hängen ein paar Bühnenfotos.„Unsere Shortlist, aber da kommt noch mehr.“

Tscholl sitzt an der Auswahl der Stücke für das 4. Europäische Bürgerbühnenfestival. In diesen Monaten telefoniert und reist sie in Europa herum, um einen Überblick zu bekommen. Die meisten Bürgerbühnen gehören zur freien Szene, sind nirgends erfasst. „Ich betreibe quasi Grundlagenforschung. Im Bereich des partizipativen Theaters entwickelt sich gerade unheimlich viel, europaweit“, sagt sie auf diese lebhafte Art, die sie hat, wenn sie etwas begeistert.

„Every Body Electric“, eine Performance von Doris Uhlich, ist eines der Stücke, die beim Bürgerbühnenfestival zu Gast sind. © Theresa Rauter

Die Idee der Dresdner Bürgerbühne ist kurz gesagt die: Zusammen mit der Stadtgesellschaft erarbeitet ein Regisseur ein Stück zu einem Thema, das die Bürger beschäftigt. Das kann Armut sein oder die Liebe, das Alter oder Migration. Die Darsteller werden in Workshops gecastet; aus Interviews, die sie mit dem künstlerischen Team führen, entsteht ihr Text; die Inszenierung entwickelt sich aus Improvisationen.

„Ich habe jedes Mal Angst, dass es schiefgeht“, sagt Tscholl. Weil zu Beginn kein Stück da ist. Weil man den Darstellern erst erklären muss, wie Theater überhaupt funktioniert. Weil die Probezeiträume doppelt so lang sind wie üblich, kräftezehrend. Aber sie lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Mühe lohnt. „Die Frage, wer für wen spricht, wird immer relevanter in unserer Gesellschaft.“ In der Bürgerbühne gilt: Jeder spricht für sich. Am Ende gibt es viele verschiedene Antworten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

„Die Bürgerbühne ist ein Plädoyer für Pluralität, für Teilhabe.“ Tscholl unterbricht das Gespräch, sucht etwas am Rechner, liest vor: „Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: kulturelle Teilhabe. Sehen Sie, das ist sogar ein Menschenrecht!“

Für Miriam Tscholl war diese Teilhabe nie selbstverständlich. Sie ist im Schwarzwald aufgewachsen, „in einem 6000-Seelen-Dorf“. Alle zwei Wochen habe es eine Kulturveranstaltung gegeben, „darauf habe ich hingefiebert“. Später selbst am Theater zu arbeiten – damals undenkbar. Erst nach einem abgebrochenen Architekturstudium hat sie sich in Hildesheim für Angewandte Theaterwissenschaften eingeschrieben.

Eine Szene aus „Bilder ohne Lila“. Das Stück in der Regie von Adrian Figueroa bezeichnet sich als „Kartographie der Wahrnehmung“. © Sebastian Hoppe

Später am Abend sitzt sie in einer Probe von „Bilder ohne Lila“, einem Stück von und mit und über Sehbehinderte. Noch zwei Wochen bis zur Premiere. Es wird eine der letzten unter ihrer Intendanz sein; im Sommer 2019 übernimmt der Regisseur Tobias Rausch.

„Ich lass jetzt mal laufen und unterbreche nur bei Katastrophen“, sagt Regisseur Adrian Figueroa. Tscholl ist die ganze Zeit hochkonzentriert, an lustigen Stellen lacht sie laut. Es gibt viele lustige Stellen, obwohl die Figuren darüber sprechen, wie es ist, wenn die eigene Tochter erblindet, oder über Probleme, die entstehen, wenn man beim Date sein Gegenüber kaum sieht. Die Figuren wirken dabei stark und selbstbewusst.

V.l.: Miriam Tscholl neben ihrem Nachfolger Tobias Rausch und Joachim Klement, Intendant des Staatsschauspiels. © Sebastian Hoppe

Im Gespräch vorher hatte Miriam Tscholl gesagt, dass die Arbeit mit Laien schwieriger sei als die mit Profis. Laien könnten nichts spielen, was sie nicht sind. „Deshalb kann ich ihnen nichts vorgeben, alles muss von ihnen selbst kommen.“ Das ist die Beschränkung der Bürgerbühne.

Dafür entfällt eine andere: das Als-ob. Zwar wird auf der Bühne gespielt, mit Identitäten, mit Schein und Wahrheit, so wie es im Theater immer der Fall ist. Aber das Publikum weiß: In den Texten stecken tatsächliche Erfahrungen der Darsteller. „Dadurch entsteht eine bestimmte Energie, eine besondere Nähe“, sagt Tscholl. Denn diejenigen auf und die vor der Bühne sind im Grunde gleich: Bürger einer Stadt.

„Our Stage – 4. Europäisches Bürgerbühnenfestival“, 18. bis 25. Mai 2019

Festivalzentrum: Schauspielhaus, Kleines Haus, Glacisstraße 28, 01099 Dresden

Spielstätten: Kleines Haus 1, 3, Mitte Glacisstraße 28, 01099 Dresden; Schauspielhaus, Theaterstraße 2, 01067 Dresden; HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, Karl-Liebknecht-Straße 56, 01109 Dresden; Societaetstheater, An der Dreikönigskirche 1A, 01097 Dresden; Residenzschloss, Taschenberg 2, 01067 Dresden; Probebühne Post, Königsbrücker Straße 21-29, 01099 Dresden

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